Gehörlosengeschichte als Community History. Herausforderungen und neue Ansätze im (Wissens-)Austausch zwischen Wissenschaft und Stakeholdern

Gehörlosengeschichte als Community History. Herausforderungen und neue Ansätze im (Wissens-)Austausch zwischen Wissenschaft und Stakeholdern

Organisatoren
Marion Schmidt, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universität Göttingen; Anja Werner, Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik, Universität Erfurt; DFG Netzwerk Gehörlosengeschichte
Ort
digital (Göttingen / Erfurt)
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.06.2021 -
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Von
Vera Blaser, Abteilung Schweizer Geschichte, Historisches Institut der Universität Bern

Die Frage, wer Gehörlosengeschichte schreiben soll und wessen Positionen – nicht zuletzt in den einschlägigen Archiven – repräsentiert sind, prägt internationale Debatten zur Gehörlosengeschichte und ist in hohem Masse relevant: Die Deaf History bemängelt, dass die Positionen hörender Fachleute in der Forschung zur Gehörlosengeschichte lange stark übervertreten waren und die Perspektive der Betroffenen marginalisiert wurde. Dadurch, so die überzeugende Folgerung, würden historische Unrechtserfahrungen perpetuiert. 1

Das DFG-Netzwerk „’Deaf History’ im deutschsprachigen Raum“ hat sich im Herbst 2020 konstituiert, am 18. Juni 2021 fand der zweite Austausch-Workshop des Netzwerks statt. Nachdem das erste Netzwerktreffen ganz im Zeichen des Kennenlernens und der Bedarfsabklärung stand 2, fokussierte der zweite Workshop nun auf ein erstes Desiderat und bot Einblicke in das Verhältnis zwischen Forschung in der Gehörlosengeschichte und den Gehörlosen-Communities. Das Netzwerk vereint gehörlose und hörende Historiker:innen und Vertreter:innen der „Stakeholder“, das heißt der nationalen Gehörlosenverbände, und strebt einen wechselseitigen Austausch an.

Nach einer kurzen Einführung durch die beiden Netzwerkverantwortlichen MARION SCHMIDT (Göttingen) und ANJA WERNER (Erfurt) boten am Vormittag drei dem Netzwerk angegliederte Projekte Einblicke in ihre Forschungspraxis im Austausch mit den Gehörlosen-Communities.

Einbezug der Community in Forschungsprojekte

REBECCA HESSE (Bern) stellte zu Beginn des Workshops das im Rahmen des Schweizerischen Nationalen Forschungsprogramms 76 „Fürsorge und Zwang“ realisierte Forschungsprojekt „Integriert oder ausgeschlossen? Die Geschichte der Gehörlosen in der Schweiz“ vor. SONJA MATTER (Bern) zeigte daran anschließend auf, wie Prämissen der partizipativen Forschung gewinnbringend in Projekte der Gehörlosengeschichte aufgenommen werden können, auch bei nicht notwendigerweise partizipativ konzipierten Projekten. Ausgehend von den Erfahrungen ihres Projektteams zeigte Matter auf, wie Ansätze der partizipativen Forschung mit einer Oral History Methode kombiniert werden können: Beispielsweise habe das Feedback von Community-Mitgliedern zu einer Modifizierung des Interviewleitfadens und einem verbesserten Verständnis für das Funktionieren der Community geführt. Letzteres ist insbesondere für hörende Forscher:innen, die wie in diesem Fall Interviews mit Dolmetscher:innen durchführen, eine wichtige Vorbedingung. In der Diskussion wurde befürwortet, dass partizipative Ansätze die Oral History Methode zu verstärkter Reflexion über das Verhältnis zwischen Forscher:innen und Interviewpartner:innen anregen sollen.

Im von JANA HOSEMANN (Köln) vorgestellten Projekt „Archiv von Lebensgeschichten als kulturelles Erbe“ stehen ebenfalls Interviews mit gehörlosen Personen im Zentrum. Ziel des internationalen Projekts „Sign Hub“ ist es, ein europaweites Archiv mit lebensgeschichtlichen Interviews gehörloser Menschen über 70 Jahren zu schaffen, das als öffentlich zugängliches kulturelles Erbe und Gedächtnisschatz dienen soll. Im Gegensatz zum ersten präsentierten Projekt wurden die Interviews in diesem Fall von gehörlosen Personen mit „maximalem Bezug zur Community“ durchgeführt. Implizit liegen damit den beiden präsentierten Projekten unterschiedliche Verständnisse darüber zugrunde, wer Gehörlosengeschichte schreiben und mit Mitgliedern der Community in Austausch treten solle. Diese unterschiedlichen Auffassungen sowie die Vor- und Nachteile der beiden Vorgehensweisen kamen bedauerlicherweise kaum in einen Dialog. Dies könnte eine Zielsetzung für den künftigen Austausch des Netzwerks sein.

Repräsentation in der deutschen Erinnerungskultur

In eine andere Richtung zielte der Beitrag von MARK ZAUROV (Hamburg) zur Repräsentation der Erfahrungen gehörloser Juden und Jüdinnen in der deutschen Erinnerungskultur: Anhand verschiedener Beispiele aus seinen Erfahrungen als Vertreter der Interessensgemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland (IGJAD) kritisierte Zaurov die ungenügende Erinnerung an das Schicksal jüdischer Gehörloser in der NS-Zeit in Gedenkstätten der Shoah und damit gleichsam den mangelnden Zugang für gebärdensprachlich kommunizierende Menschen zu ihrer eigenen Geschichte. Zaurov plädierte für eine stärkere Ausdifferenzierung in der Holocaust-Gedenkkultur und veranschaulichte dabei deutlich, dass (nationale) Gehörlosen-Communities keine homogenen Einheiten darstellen, sondern dass deren Mitglieder, wie in diesem Falle jüdische Gehörlose, von unterschiedlichen Mehrfachdiskriminierungen betroffen sein können. Darüber hinaus bemerkte Zaurov, dass die ungenügende Repräsentation von Erfahrungen gehörloser Menschen nicht bloß in Shoah-Gedenkstätten festzustellen sei, sondern beispielsweise auch in medizinhistorischen Museen, insbesondere im Zusammenhang mit technischen Hilfsmitteln wie Hörapparaten. Zaurovs bisweilen radikale Kritik führte zu den kontroversesten Diskussionen des Tages. So lehnte es der Referent beispielsweise konsequent ab, dass Gehörlosigkeit in Terminologien der Behinderung gefasst würde, sondern stets als kulturell-sprachliches Phänomen verstanden werden müsse. Mehrere Teilnehmer:innen waren dahingegen klar der Auffassung, dass Gehörlosigkeit historisch betrachtet in hegemonialen Diskursen (und Praktiken) lange als Behinderung gefasst wurde und diesem Faktum in einer Analyse entsprechend Rechnung getragen werden müsse.

Die Stakeholder der Gehörlosen-Communities und die Geschichtsforschung

Im Anschluss an die Beiträge zu konkreten Forschungsprojekten boten Vertreter:innen der nationalen Gehörlosenverbände aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Einblicke in ihre Auffassung über das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Gehörlosen-Community. Für alle drei Verbände ist der bis heute prekäre Status der Gebärdensprache in allen drei Ländern und die damit verbundenen Diskriminierungserfahrungen von Gehörlosen das zentrale politische Thema. HELMUT VOGEL (Deutscher Gehörlosenbund DGB), Präsident des DGB und Historiker, bot einen groben Überblick über die Entwicklung in der deutschen Gehörlosengeschichte der letzten rund 150 Jahre. Besonders interessant war die Erwähnung der Deutschen „Taubstummenkongresse“, die ab der Wende zum 20. Jahrhundert und bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges regelmäßig stattfanden und im Rahmen derer sich Gehörlose gegen die oralistische – das heißt die lautsprachlich fokussierte und Gebärdensprache ausschließende – Methode in der Gehörlosenpädagogik zur Wehr setzten. In der kollektiven Erinnerung der Gehörlosengemeinschaft sei diese Phase des Widerstands jedoch kaum präsent. Als Ziele des DGB hinsichtlich historischer Forschung formulierte Vogel unter anderem die Aufarbeitung der Traumata, die viele Gehörlose durch die orale Schulung erfahren hatten.

Auch für den Schweizerischen Gehörlosenbund SGB-FSS, vertreten durch HARRY WITZTHUM (Geschäftsführer SGB-FSS), ist die öffentliche Anerkennung der Unrechtserfahrungen im Zusammenhang mit der oralistischen Erziehung Gehörloser eine wichtige politische Forderung. Der SGB-FSS hat in den letzten zehn Jahren unabhängige historische Forschung zur Gehörlosengeschichte, die die Perspektive der Betroffenen verstärkt miteinbezieht, proaktiv gefördert. Nicht zuletzt dank der wissenschaftlichen Belege durch mehrere historische Studien konnte der SGB-FSS im September 2021 erwirken, dass Vertreter:innen aus der sogenannten Gehörlosenfachhilfe sowie aus den Gehörlosenschulen die Unrechtserfahrungen anerkannten, die gehörlose Menschen aufgrund des institutionellen Verbots der Gebärdensprache bis vor wenigen Jahrzehnten erfuhren. 3

HELENE JARMER (Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbunds ÖGLB) berichtete ausführlich über die Bestrebungen des ÖGLB, verschiedene Archive zur Gehörlosengeschichte zu erschließen, um die vergangenen Erfahrungen sichtbar zu machen. Auch beim ÖGLB sind Diskriminierungserfahrungen gehörloser Menschen aufgrund ihrer Beeinträchtigung ein zentrales Element, das durch historische Aufarbeitung sichtbar gemacht werden soll. Jarmer betonte darüber hinaus aber auch eine ermächtigende Wirkung von der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen. So erwähnte sie beispielsweise, dass politisch aktive Gehörlose aus früheren Jahren heute als wichtige Vorbilder für politisches Engagement fungieren können.

Alle drei Referate verdeutlichten, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte für die drei Verbände eine politische Dimension der Aufarbeitung umfasst. Wie dies die Zusammenarbeit zwischen Verbänden und (vielleicht insbesondere nichtgehörlosen) Forscher:innen beeinflusst, wurde nicht abschließend geklärt. Klar erscheint, dass Forschung in der Gehörlosengeschichte von den konkreten politischen Strategien der Verbände unabhängig sein sollte; gleichzeitig erfordert besonders eine Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte ein erhöhtes Maß an Sensibilität bezüglich möglicher Retraumatisierungen von Unrechtserfahrungen betroffener gehörloser Personen. In der abschließenden Diskussion bestand ein Konsens darüber, dass die Sichtbarkeit und Erinnerung von Gehörlosengeschichte insbesondere in den Gehörlosen-Communities für die Forschung und die Verbandsvertreter:innen gleichermaßen ein großes Anliegen darstellt. Wichtig wäre daher, so ein weiteres gemeinsames Anliegen, dass Forschungsergebnisse nicht nur in schriftlicher Form, sondern beispielsweise auch in Videos mit Gebärdensprache publiziert werden. Einzelne Projekte und Verbände haben darin bereits Erfahrungen gesammelt. Vereinzelt wurde dagegen angemerkt, dass solche technischen Lösungen des Wissenstransfers finanziell ins Gewicht fielen und in Projektanträgen oft nur ungenügend geltend gemacht werden können.

«Cripping the Archive» oder die historische Erinnerung diversifizieren

Den Abschluss des Workshops bildete der Keynote-Vortrag von OCTAVIAN ROBINSON (Gallaudet University, Washington DC). In seinem Beitrag „The Personal is Historical“, der mit dem Titel explizit an den Leitsatz der Neuen Frauenbewegung – „The Personal is Political“ (Auf deutsch in der Regel „Das Private ist politisch“) – anknüpft, sprach Robinson verschiedene Problematiken im Umgang von Deaf History mit der Deaf Community an: Den Austausch zwischen Forscher:innen und Community-Mitgliedern erachtet er als wichtiges Instrument, der machtförmigen Logik des Archivs entgegenzuwirken. Robinson zeigte eindrücklich auf, wie in der Erinnerung an die Deaf President Now-Bewegung von 1988 die zentrale Beteiligung von Frauen und People of Color vernachlässigt würde. 1988 kam es an der Gallaudet University in Washington DC anlässlich der Neubesetzung des Rektoratsposten zu vehementen und öffentlichkeitswirksamen Protesten. Die Studierenden forderten, dass anstelle einer hörenden Frau zum ersten Mal in der Geschichte ein Gehörloser zum Präsidenten der Universität ernannt würde. Nach mehrtägigen Demonstrationen trat die bereits gewählte Elisabeth Zinser zugunsten von Irving King Jordan zurück.4 Robinson gelang in seinem Referat eine ausgesprochen vielschichtige geschlechterhistorische Analyse dieser Ereignisse. So maß er der Tatsache, dass durch die Ernennung des ersten gehörlosen Präsidenten, jene der ersten weiblichen Präsidentin von Gallaudet verhindert wurde, ebenso Bedeutung bei, wie der Feststellung, dass in zentralen Dokumentationen zu diesem bedeutsamen politischen Moment fast ausschließlich Bilder und Beiträge von weißen Männern sichtbar wurden.5 Ziel von Robinsons Forschungsmethode, die er „Cripping the Archive“ nennt, ist es, die Logik der Archivierungspraxis zu verstehen, unterrepräsentierte Positionen zu definieren und gezielt nach marginalisierten Zeitzeug:innen zu suchen. Seine Ausführungen stellten damit einerseits ein Plädoyer für eine intersektionale Perspektive auf die Gehörlosengeschichte dar. Gleichsam kann Robinsons Vorgehen auch als sehr gelungene und inspirierende Praxis intersektionaler Deaf History bezeichnet werden.

In der abschließenden Diskussion wurde denn auch hervorgehoben, dass die deutschsprachige Gehörlosengeschichte vermehrt auf Tabus innerhalb der Selbsterzählung der Communities achten müsse, wofür ein kritisches, vielschichtiges Community-Verständnis zur Anwendung kommen müsse.

Ausblick: die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive

Es wurde deutlich, dass die Auseinandersetzung darüber, wie sich Forscher:innen der Gehörlosengeschichte zur Community positionieren, von größter Wichtigkeit ist. Eindrücklich zeigten die Referate und die Diskussion mehrfach auf, dass ein eindimensionaler Community-Begriff, der von Gehörlosengemeinschaften als relativ einheitlichen Gefügen ausgeht, in Gefahr läuft, besonders vulnerable resp. marginalisierte Mitglieder und ihre Geschichte(n) zu übersehen. Der Titel der Keynote „The Personal is Historical“ kann und soll auch so verstanden werden, dass möglichst viele unterschiedliche individuelle Erfahrungen in eine Geschichtsschreibung einfließen sollen, um ein möglichst komplexes und differenziertes Bild der unterschiedlichen Realitäten gehörloser Menschen zu erhalten.

Konferenzübersicht:

Einführung

Marion Schmidt (Göttingen) / Anja Werner (Erfurt)

Vorstellung von Projekten aus dem Netzwerk

Sonja Matter (Bern) / Rebecca Hesse (Bern) / Vera Blaser (Bern): Integriert oder ausgeschlossen. Die Geschichte der Gehörlosen in der Schweiz

Jana Hosemann (Köln): Die Lebensgeschichte tauber Senioren

Mark Zaurov (Köln): Gehörlosenkultur fördern. Die Umsetzung der UN-BRK

Perspektiven auf Gehörlosengeschichte aus den Verbänden

Helmut Vogel (Deutscher Gehörlosenbund (DGB)) / Harry Witzthum (Schweizer Gehörlosenbund (SGB-FSS)) / Helene Jarmer / Lukas Huber (Österreichischer Gehörlosenbund (ÖGLB))

Keynote

Octavian Robinson (Washington, D.C.): The Personal is Historical: Creating narratives through reciprocal processes

Anmerkungen:
1 Joseph Murray, History of the Deaf, in: Britannica, https://www.britannica.com/science/history-of-the-deaf (15.10.2021).
2 Clara-Maria Kutsch, Bericht des Ersten Workshops des DFG Netzwerks Gehörlosengeschichte, in: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8928, (18.10.2021).
3 o. A., Gehörlosenschulen in der Schweiz – die Unterdrückung der Gebärdensprachen wird anerkannt! Medienmitteilung vom 22.09.2021, in: SGB-FSS, https://www.sgb-fss.ch/wp-content/uploads/2021/09/MM_23-September-DE_OK.pdf (15.10.2021).
4 o. A., History Behind DPN. What Happened…, in: Gallaudet University https://www.gallaudet.edu/about/history-and-traditions/deaf-president-now/the-issues/history-behind-dpn (18.10.2021).
5 Vgl. Jack R. Gannon, The Week the World heard Gallaudet, Washington 1989.


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